Tante-Emma-Runterladen

Mir läuft das Wasser im Mund zusammen: 100 Gramm feiner Kochschinken, ein Sonderangebot. Zwar benötige ich die auf der Packung festgeklebten Dreingaben (eine Schachtel Reißzwecken und einen Gutschein für die einmonatige kostenlose Nutzung einer Badezimmerkachel) nicht, aber die kann ich ja zuhause gleich wegwerfen, und auch das Probeabonnement des "Vereinsblatts der Heimtierzüchter" kann man ja unkompliziert schriftlich wieder kündigen.

Ich gehe zur Kasse. Die ist nicht ganz einfach zu finden, da der Wegweiser völlig falsch geschrieben ist, in die verkehrte Richtung zeigt, und die Tür zum Kassenraum klemmt, aber durch den verschneiten Lieferanteneingang gelingt es mir dann doch, zur Bezahlstelle vorzudringen. Ich nähere mich der Kassiererin mit einem fröhlichen "Guten Tag". Sie reagiert nicht. Ich tippe ihr auf die Schulter, immer noch keine Reaktion. Ein Freund erzählte mir, in so einer Situation gehe ich am besten noch einmal zurück zur Tür, wiederhole meinen Gruß, und manchmal klappt es dann. Nach nicht einmal zehn Minuten habe ich meinen Einkauf bezahlt. Die ec- und die Visakarte sowie die Barzahlung wurden von der Kassiererin zwar nach dem Ausfüllen des Kaufvertrags abgelehnt (zu meiner eigenen Sicherheit), die Bezahlung geschieht hier ganz praktisch durch Glasperlen, mit welchen man hervorragende Erfahrungen gemacht hat, und welche ich bei Schröders Bastelstube (nach eigener Aussage Marktführer bei sicheren Bezahlsystemen) im benachbarten Stadtteil bequem kaufen konnte. Jetzt noch flugs die dringend benötigten Daten aus meinem Führerschein, meinem Reisepass und meinen vorgelegten Kontoauszügen abgeschrieben, der Schufa-Auskunft zugestimmt, dann kann ich schon fast meinen Kochschinken in Empfang nehmen. Ich lehne freundlich die Plastiktüte voll mit Werbeunterlagen einer Matratzenfirma ab, finde sie später dennoch in meiner Einkaufstüte wieder.

Ich muss nun nur noch den Lieferantrag, der mir per Post nach Hause geschickt wird, abholen, den 20-stelligen Authentizitätscode abschreiben und bei der Kollegin an der Warenausgabe des Supermarkts vorzeigen. Ich tue dies, und sie händigt mir eine Packung aus. Dort ist zwar Schwarzwälder Schinken drin, ich reklamiere, sie verweist mürrisch auf einen Passus in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen, welche zerknüllt hinter der Kühltruhe kleben, in denen doch schließlich klipp und klar stehe, dass der Supermarkt zu diesem Austausch befugt sei. Außerdem sei Schwarzwälder Schinken doch viel besser als Kochschinken. Nicht auf einer Pizza, skandiere ich und werde ignoriert.

Als ich zuhause ankomme, bemerke ich, dass sich ein kleiner Mann in den Kofferraum geschmuggelt hat. Er steigt aus, springt zur Wohnungstür hinein und versteckt sich in der Küche hinter dem Herd. Von dort lugt er hin und wieder hervor, und hält mit seinem Mobiltelefon den Schinkenhersteller auf dem Laufenden darüber, ob ich denn den Schinken auch nur für die vorgeschriebenen Zwecke gebrauchen und ihn insbesondere auch nicht meinen Nachbarn ausleihen oder ihn gar weiterverkaufen würde.

Der Schinken ist übrigens gar nicht so gut wie in der Werbung angepriesen. Die Packung geht sehr schwer auf, er sieht komisch aus und passt geschmacklich gar nicht zu meinem anderen vorhandenen Pizzabelagen. Ich bin enttäuscht — nicht unbedingt wegen des Schinkens oder des herausgeworfenen Geldes, sondern ärgere mich über den betriebenen Aufwand beim Kauf, und auch über den kleinen Mann, welcher sich weigert, hinter dem Herd hervorzukommen, und von dort lauthals der Nachbarschaft meine Kontoauszüge und Privatkorrespondenz vorliest.

Das nächste Mal klaue ich mit den Schinken lieber im Laden.

Ich lese später in der Zeitung, der Kochschinkenhersteller sei mit dem Umsatz seines Produktes unzufrieden. Er werde als Folge das Werbebudget erhöhen, und verkaufe den Kochschinken nur noch als verstecktes Zweijahresabonnement.

Lieber Leser,

an welcher Stelle des Kochschinkenkaufs hätten Sie den Kaufvorgang abgebrochen, dem Verkäufer einen Vogel gezeigt und wären unverrichteter Dinge wieder nach Hause gefahren? Ich vermute, bei den Reißzwecken. Nur die ganz Hartgesottenen unter Ihnen hätten wirklich die Kasse gesucht.

Stellen Sie sich nun aber vor, das erworbene Produkt hieße nicht "Kochschinken", sondern "Kochschinken® Pro" und sei eine Software, und finden Sie sich in der duftigen Klärgrube der Realität wieder. Hand aufs Herz: wer von Ihnen hat sich schon einmal eine Software im Internet so einfach gekauft und installiert, wie (übertragend gemeint) den Schinken für eine Pizza? Ich stelle mir das so vor: auf "Kaufen" klicken, die Kreditkartendaten oder die Bankverbindung (für einen Einzug) eingeben, Produkt und Betrag abnicken, Download beginnt, Software installieren, Ruhe. Irgendjemand? Bueller?

Also, ich nicht. Der letzte Vorgang, der nach tadellos gestalteten Bannern, Testimonials und Featurelisten auf der Anbieterseite erwartungskonform funktioniert, ist der Mouseclick-Event des "Buy Now"-Buttons. Dieser katapultiert den Websitebesucher in ein Paralleluniversum, in welchem vielleicht noch die Schwerkraft, nicht aber der Menschenverstand gilt, und mal drin rumgeklickt scheint auf Anbieterseite auch niemand zu haben. Ich beobachte Fehler in der Lokalisierung (z.B. für den internationalen Versand bei der Adresseingabe "Bundesstaat" als Pflichtfeld-Dropdown. Liegt Hamburg jetzt in "Alabama" oder "Wyoming"?), unsinnige technische Einschränkungen ("Für dieses Formular benötigen Sie den Internet Explorer 7 und ein installiertes Java" — Himmelherrgott, es ist ein Formular!) und schwere Verstöße gegen das Datensparsamkeitsgebot: offenbar scheint es die Marketingabteilungen der Anbieterfirmen aber nicht zu stören, dass die Hälfte Ihrer Kunden in der Mickymausstraße 111 wohnen und am 11.11.1111 geboren sind.

Es folgt der Test, welche der Einweg-Mailadressenanbieter nicht auf der Blacklist des Versendersystems sind, um alsdann die "Gültigkeit der Mailadresse" zu bezeugen… kopfschüttel. Mal angenommen, der Download funktioniert und die gezippten Dateien sind nicht korrupt und vollständig. Dann folgt der schmerzvolle Prozess der Produktaktivierung. Ich kenne mehr als eine Person, die nach mehreren Stunden erfolglosen Herumklickens auf Aktivierungssites, vergeblichen Wartens auf Bestätigungsmails, Anrufen bei nicht erreichbaren Hotlines der Softwarehäuser, erneuter Installation und manuellen Editierens der Registry sich dann für ihre gekaufte Software den Produktschlüssel doch von irgendeinem russischen Pornoserver runtergeladen haben, weil dies wenigstens anstandslos funktioniert. Ich war neulich beim Erwerb der "Kontakt"-Musiksoftware der großartigen Musiksoftwarefirma "Native Instruments" auch soweit; meine Motivation zum tatsächlichen Abschluss des vierstündigen Softwareaktivierungsvorgangs zog ich einzig aus meiner Unkenntnis russischer Pornoserver.

Genug! Ich fordere: Software zu Schinken! Und stelle folgende Thesen auf:

  1. Software ist kein besonderes Produkt und unterscheidet sich in keinem wesentlichen Punkt von Kochschinken. Nein, ist es nicht, und tut es nicht.
  2. Mißtrauen macht mißtrauisch. Neugierde wird mit Fehlinformationen bestraft. Und Russland ist groß und hat viele Server.
  3. Viel Software wird nicht verkauft, weil die Kunden den Kaufprozess nicht durchlaufen wollen oder können. Und sie könnte wesentlich wirtschaftlicher verkauft werden, wenn alles, was nicht direkt mit dem Softwareprodukt zusammenhängt, wegfiele. Ja, tut mir leid, auch das Reißzwecken-Abo interessiert den Kunden nicht.
  4. Es wird viel Geld für Dongles, Kopierschutz und Spionagesoftware ausgegeben, und wenig für die Qualitätssicherung des Kaufformulars. Es wird viel Mühe investiert für alles vor dem "Buy Now"-Button, und wenig für alles danach.

Ich bestelle mir jetzt eine Pizza. Sollen die vom Pizzadrive sich doch mit dem Kauf von Kochschinken auseinandersetzen. Für diese Dienstleistung zahle ich auch gern nen Euro mehr.

Und wer einen russischen Pornoserver weiß, hinterlasse den bitte im Kommentarfeld. Vielleicht braucht den ja jemand beim nächsten Softwarekauf.

4 Gedanken zu „Tante-Emma-Runterladen“

  1. Mal wieder eine literarische Perle vor die Säue der Contentindustrie. Und dabei können wir schon froh sein das zwar die Musikindustrie DRM abgeschafft hat, die Verlage aber gerade erst das Internet und seine Möglichkeiten entdeckt haben.

    Wie auch immer, ein guter Anlaufpunkt für Kekse ist http://www.astalavista.com

  2. Ich hatte tatsaechlich ueberraschend wenig Schwierigkeiten auf bei GoG [einzige Seite, auf der ich je fuer Geld etwas runtergeladen habe]. Allerdings haben die Produkte dort auch kein DRM.

  3. Also auch wenn ich mehrere Appleprodukte mein Eigen nennen darf, bin ich nun wirklich kein Apple-Fanboy. Es gib auch genügend Dinge die auf dem Mac schlichtweg nicht funktionieren aber der Kauf und das installieren/registrieren von Software läuft auf dem Mac über den AppStore wirklich erste Sahne. Da kann sich Microsoft für Windows 8 noch einiges abgucken.

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