Ein Weihnachtsgruß zum geschriebenen Wort

Lieber Leser.

Vielleicht ist es übertrieben, wenn ich bei der Anrede in der Einzahl bleibe. Aber so viele Leute lesen meinen Blog auch nicht, dass ich ohne hochzustapeln mit "Werte Massen" beginnen könnte. Deutlicher gesagt: Das, was ich hier hin und wieder schreibe, liest praktisch kein Schwein. Ich bin mir dessen bewusst, bin mit dieser Tatsache im Frieden, denn ich bin in guter Gesellschaft: Viele Leute auf der Welt schreiben sich die Seele aus dem Leib, ohne dass es je gelesen wird.

Klassifizieren wir diese Schriftstücke – nennen wir sie hier einmal Write-Only-Media (WOM) – einmal grob in zwei Gruppen:

a) solche, die mit wenig Aufwand und in geringer Stückzahl produziert werden und nur marginale Verbreitung erfahren, z.B.:

  • dieser Blog,
  • der Liebesbrief von dem fahlgesichtigen Streber aus der 8b,
  • Tagebücher,
  • Beschwerdebriefe an die Telekom, usw.

b) und solche, die außerordentlich aufwändig, in schierer Unzahl und mit teils weiltweiter Verbreitung gedruckt, publiziert und verteilt werden. Und trotzdem keinen einzigen Leser finden.

Was für welche sind das? Nun, es gibt sie massenhaft und überall! Ein weihnachtliches Beispiel:

Mein kleiner Sohn bekam zu Weihnachten eine Werkbank geschenkt, mit kindgerechtem Plastikwerkzeug und einer kleinen batteriebetriebenen Bohrmaschine. Das Bundle kam mit nicht weniger als acht unterschiedlichen Begleitzetteln, auf denen auf fast allen stand "Wichtige Informationen! Unbedingt sorgfältig durchlesen und aufbewahren!". Nun lesen wir grundsätzlich keine Begleitzettel. Mein Sohn nicht, weil er nicht lesen kann, und ich nicht, weil ich als Mann selbstverständlich kompetent genug bin, jeden mir vorgelegten Gegenstand aus dem Stand heraus montieren und bedienen zu können. Erst recht ein Kinderspielzeug!

Auffällig an der Werkbank ist jedoch ein (ebenfalls aus kindgerechtem weichmacherfreien Kunststoff gefertigter) Schraubstock, der schlicht ohne erkennbare Funktion ist. Nun habe ich das nicht wirklich erwartet: die Kneifzange und der Hammer funktionieren ja schließlich – aus gutem Grunde – auch nicht. Dennoch entschloss ich mich, doch einmal die Beilegezettel zu überfliegen, ob mir vielleicht doch bei der Montage ein Fehler unterlaufen sei. Und so sah ich also das ganze Elend:

  1. ein Blatt mit vagen Sicherheitsbestimmungen und Warnhinweisen ("Achtung! Nicht über die vom Hersteller angegebene Belastungsgrenze hinaus beanspruchen!"),
  2. eines mit nicht minder vagen Entsorgungsrichtlinien ("ggf. im Lieferumfang vorhandene elektronische Bestandteile sind fachgerecht zu entsorgen"),
  3. ein Garantiezertifikat, das jedoch nur dann gültig ist, wenn das Spielzeug "vom Fachhändler montiert wird" (hallo, es ist eine Kinderwerkbank mit daumengroßen Plastikschrauben!) und ferner mit Unterschrift, Kaufdatum und Stempel von einer nicht spezifizierten Stelle ausgestellt werden muss (das Garantiezertifikat ist übrigens in Plastik eingeschweißt tief unten im versiegelten Pappkarton untergebracht. Viel Spaß im Spielzeugladen.),
  4. ein Blatt mit Richtlinien für korrektes Einsetzen und Entsorgung der Batterien (welches jedoch sich darüber ausschweigt, wo sich denn eigentlich das Batteriefach verbirgt),
  5. eine Liste von kompetenten Fachhändlern im europäischen Ausland (praktisch, wenn man die einen halben Kubikmeter messende Werkbank gerade mit dem Flieger nach Madrid transportiert hat),
  6. ein Blatt, das die Konformität irgendeiner mir unbekannten und nicht näher spezifizierten TÜV- oder CE-Richtlinie beurkundet,
  7. ein Blatt mit Modellnummern (ohne Abbildungen) und Bezugsadressen für ein offenbar von der gleichen Firma angebotenes Zubehör, dessen Bezug zum erworbenen Produkt mir nicht klar ist,
  8. und – endlich – eine Montageanleitung. Kurz gefasst, zwölfsprachig, der deutsche Teil immerhin weitgehend rechtschreibfehlerfrei, und ganz offensichtlich einer früheren Produktserie mit vollständig anderen Teilen zugehörig, somit praktisch nutzlos. Immerhin: der Skizze nach soll die nach einem Schraubstock aussehende Vorrichtung gar nicht wirklich funktionieren, wahrscheinlich aus Sicherheitsgründen.

Acht Dokumente, welche allesamt mehr oder weniger mühevoll, jedoch zeitaufwendig konzipiert, formuliert, geschrieben, übersetzt, qualitätsgesichert, gedruckt, eingetütet und versandt worden sind. Um beim Empfänger, noch nach Druckerschwärze duftend, sofort im Altpapier zu landen. Das sind Write-Only-Medien der Klasse b).

Dieser zweiten, bedauernswerten Gruppe von Autoren gilt mein weihnachtliches Mitgefühl. Warum? Nun, den Kollegen der WOM Klasse a) macht ihr Mühsal vermutlich zumindest Freude. Oder sie schreiben sich den Frust von der Seele. Oder sie pflegen zumindest ihre literarischen Grundkenntnisse.

Aber Euch, Ihr Autoren der WOM Klasse b)? Macht es Euch Spaß, EU-regelkonforme Sicherheitsrichtlinien und Warnhinweise zu schreiben? Fühlt Ihr Euch befreit, wenn das von Euch mühsam erstelle Endbenutzer-Lizenzabkommen (EULA) von 20 Bildschirmseiten Länge endlich

IN UNLESERLICHEM FETTEN DAUERGROSSDRUCK MIT MIKROSKOPISCH KLEINEM SCROLLBALKEN IN TIMES NEW ROMAN SECHS PIXEL IN DUNKELGRAU AUF SCHWARZ IN EINEM ZWEI MAL SECHS ZENTIMETER GROSSEM TEXTFELD DAS SICH SO FUMMELIG BEDIENEN LÄSST UND KEIN ÜBERFLIEGEN SEINES INHALTES ZULÄSST, SO DASS MAN GAR NICHT MERKT, DASS DER REST AUS BLINDTEXT ZWEI BOXKÄMPFER JAGEN EVA QUER DURCH SYLT THE QUICK BROWN FOX JUMPS OVER THE LAZY DOG LOREM IPSUM DOLOR SIT AMET UT PURUS EST LEO SED CONDIMENTUM SEMPER DONEC VELIT NEQUE MAECENAS ULLAMCORPER

auf der Website prangt? Bekommt ihr begeisterte Leserbriefe für den haftungsbeschränkenden E-Mail-Footer und den kugelsicheren Website-Disclaimer? Oder wenigstens viel Geld?

All ihr Autoren von Allgemeinen Geschäftsbedingungen, Arbeitsanweisungen, Image-Broschüren und Beipackzetteln, von Versicherungsbedingungen, Reklame-Pop-Ups und Werbebeilagen, von README- und license.txt-Dateien. Vielleicht ergibt Eure Arbeit einen Sinn. Ich möchte aber nicht mit Euch tauschen. Meine Wörter werden ebensowenig gelesen wie Eure, aber zumindest schreibe ich sie freiwillig, gehe damit fast niemandem absichtlich auf den Geist, und die Herstellung und Verbreitung geschieht vergleichsweise CO2-neutral.

Sollte tatsächlich irgendjemand bis hierhin gelesen haben, bitte ich ihn, zum Beweis als Kommentar das Wort "Gummistiefel" zu hinterlassen.

Frohen Jahresausklang,

Euer Rude

4 Gedanken zu „Ein Weihnachtsgruß zum geschriebenen Wort“

  1. Ich scrolle immer erst nach unten, alte Spiegel-Angewohnheit. :-) Gummistiefel! (Und jetzt noch den Captcha ausfüllen, puh!)

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