Wer es noch nicht mitbekommen hat: dies Jahr ist wieder Fußballweltmeisterschaft. Das heißt: Futter für Anhänger Orwell’scher Überwachungstechnologien, überteuerte und undurchschaubare Verkäufe von Tickets und Übertragungsrechten, FIFA-Skandale und auch ein bisschen Fußball.
Beschäftigen wir uns jedoch einmal mit den Nationalhymnen. Ich habe im Juni wiederholt die Gelegenheit, in Zürich einen Klavierabend zu bestreiten, bei welchem ich das auf Leinwand übertragene Spiel Griechenland ./. Argentinien als Stummfilm am Klavier begleiten werde. Da komme ich auch nicht drumrum, mich mit den Hymnen der Länder zu befassen.
Zur letzten WM war das Spiel Japan ./. Brasilien Thema des Abends. Was für ein Gegensatz: die kurze, gemächliche, Unisono-Melodie der Japaner gegen das komplexe rhythmische Feuerwerk der Brasilianer! Man stelle sich vor, Brasilien würde das fehlerfreie Aufsingen seiner Nationalhymne im Ausländerintegrationstest vorsehen. Das Land wäre nach kurzer Zeit wie leergefegt. Die brasilianische Hymne ist unsinnig schnell, schwer zu spielen, schwer zu singen, temperamentvoll und schmissig.
Diesmal also Griechenland und Argentinien. Auch hier starke regionale Unterschiede, bei welcher sich mir die Frage aufdrängt: Welche Aufgaben soll eine Nationalhymne eigentlich erfüllen? Ohne eine ausreichende statistische Masse betrachtet zu haben, wage ich die Vermutung, dass auf der Nordhalbkugel die Hymnen bewusst so komponiert werden, dass sie jeder Ackergaul mitsingen kann, während auf der Südhalbkugel die eigene Landeshymne von deren Bevölkerung im Grunde nicht zu bewältigen ist.
Und hier bestätigt sich meine Vermutung erneut: Die Hymne Griechenlands ist einfach, solide, spaßbefreit, selbstsicher und ein bisschen doof, genau wie die deutsche. Selbst die Spieler der Nationalmannschaft können sie mitsingen.
Und dann war da noch Argentinien. Ein schönes, bewegtes Land mit einer schwierigen Vergangenheit und steten sozialen Problemen. Idealer Nährboden für wunderschöne depressive Tangos, und eine etwas komische Nationalhymne. Man meint, sie sei extra dazu geschaffen, die eigenen Mitbürger zu verunsichern und sie auf einer gesunden Distanz zu ihrem Staat zu halten. Die argentinische Nationalhymne ist unendlich lang und kompliziert. Sie ist musikalisch trist und der Text voll mit vagen Durchhalteparolen. Sie hat Unmengen unmotivierter Temposchwankungen und Fermaten, und sie hat ein elendlich langes Instrumentalvorspiel!
Interessant zu sehen, wie sich ein solches Stück im musikalisch wackligen Fundament einer Fußballmannschaft so schlägt. Da das Stück schon von der schieren Länge her ungeeignet für einen Einsatz vor dem Anpfiff ist, wird es eigentlich immer irgendwie gekürzt, aber immer anders. Schaut man sich die Aufzeichnungen früherer Spiele an, muss man unweigerlich schmunzeln, da die aufgereihten Spieler während des langen Vorspiels unsichere Blicke austauschen, wann’s denn nun losgeht. Ich vermute, der Mannschaftskapitän entscheidet dies. Das Wort "Spielführer" erhält hier eine neue Bedeutung, und die Person eine neue Verantwortung. Hin und wieder wird auch nur das Instrumentalvorspiel gebracht, vermutlich aus Rücksicht auf die Konzentration der Fußballer.
Für die Stummfilmbegleitung ist diese Hymne extrem undankbar: da ich ja nichts höre, sind meine einzige Orientierung die Feldspieler, und die verstehen das Stück selbst nicht.
Ich muss zugeben, mein Interesse an diesem Land ist gestiegen. Und da ich den Tango eh im letzten Jahr vernachlässigt habe: mal sehen, was der Urlaubskalender 2011 so hergibt. Aber erstmal: schöne WM! Frohes Buffen! Pauli!
Ein Gedanke zu „Der Lärm gesprengter Ketten“