Nach Sankt Gallen, der Semmel wegen, oder: Hoppla, was kostet die Wurst?

Nun, da die Tage kälter werden, gelüstet es einem nach dem vollendetem Besuch des, je nach Geschlecht oder Vorlieben, Bau- oder Flohmarkts nicht mehr nach kühlendem Eis oder Bier, sondern nach etwas Warmen, Ungesunden an der Wurstbude. Und hier ist es, wo sich jedes Jahr aufs neue ein Land seinen kulturellen Spiegel vorhalten lassen muss. Hier stellt sich die Frage: was für Dinge essen wir, und was sind uns diese wert.

Ich durfte viele Jahre lang, vor allem zur kalten Jahreszeit, im schönen St. Gallen in der Ostschweiz zu Gast sein. Bekannt vor allem durch die sehr dekorative weltkulturvererbte Stiftsbibliothek, in der man zugegebenermaßen hervorragend auf Filzpantoffeln über den Intarsienfußboden schliddern kann, ist die eigentliche Attraktion dieser Stadt jedoch die Bratwurst. Sie allein ist schon die Anreise wert. Sie muss nicht unbedingt von den lokalen Metzgergrößen Schmid oder Gemperli kommen; auch das Modell, das vor dem örtlichen Coop (ohne ‚Okina gesprochen) vor sich hinbrät, ist schon sensationell. Die Wurst kommt vom einheimischen Nutztier, was mit einer an ein Datenschutzvergehen grenzenden Herkunftsangabe belegt wird. Das Grillgut findet auch in den anderen Regionen der Schweiz großen Zuspruch (was in diesem von einer Art Raubtierföderalismus geprägten Land schon was heißt), und so bekommt man sie auch, wenn man z.B. in Zürich aus der Bahn steigt und sich an der erstbesten Wurstbude eine Wurst kauft. Eine herrlich duftende, gut gewürzte, frische, anständig große Bratwurst mit einem sagenhaften Bauernbrötchen („Bürli“) dazu. Die hat dann auch ihren Preis: mit um und bei sechs „Stutz“ (Schweizer Franken), mithin ca. 4 Euro, ist man dabei und immerhin danach satt und glücklich.

Nun begeben wir uns über die Grenze, am besten nach Norddeutschland, da verstehen sie laut Guide Michelin am wenigsten vom Essen, und vom Fleisch schon gar nichts (die Ganzjahres-Aggro-Griller aus Westfalen vielleicht mal ausgenommen). Was bekommt man also an der deutschen Wurstbude? Meist eine zeigefingerdicke, ihrer Discounter-Vakuumverpackung entrissene, stundenlang bei Zimmertemperatur im lauwarmen Fett gedörrte Wurst, die mal Thüringer hieß, aber das darf man ja nicht mehr sagen, seit ein paar zwangsversetzte Marketingstrategen mit geographischem Minderwertigkeitskomplex die Ostzone mit der Champagne verwechselt haben, und sich den Begriff irgendwie schützen ließen. Nicht mal die zwischenzeitlich eingeführte klobige Bezeichnung „thüringische Art“ fand das Nachsehen der Strukturneider. Nennen wir sie also stattdessen „Bratwurst sowjetisch besetzter Art“, oder einfach „Zonenwurst“.

Also, wir erhalten — wohlgemerkt mit dem gleichen Wortlaut „Eine Wurst, bitte“ wie in der Schweiz bestellt — eine Zonenwurst. Das allein ist schon nicht preisverdächtig (und ich komme aus der Heimatstadt des Wurstherstellers hareico, bin also dem Brät gegenüber durchaus positiv geprägt). Aber der Hammer ist die „Beilage“: eine halbe, diagonal zerteilte ungetoastete Scheibe Toast!

Himmel! Ein 500g-Toastbrot kostet weniger als 60 Cent, hat 25 Scheiben, und davon eine Halbe (sic!), das macht — an dieser Stelle hole ich einen Taschenrechner mit Gleitkommakompetenz hervor — etwas über einen Cent pro Portion! Im Wurstbundle sind es dann ein Euro neunzig (offizielles Baumarktparkplatzpreisniveau).

Zwei Würste, zwei Welten. Was haben die Eidgenossen, was wir nicht haben? Nun gut, Geld. Aber das kann nicht der einzige Grund sein, weshalb eine Bratwurst bei uns Junk ist, und dort eine schlipsträgertaugliche Mahlzeit. Ich vertrete die wenig exotische oder originelle Meinung, dass die — halb kulturell bedingte, halb werbebeschworene — Billig-Mentalität in Deutschland uns in vielen Dingen schadet, auch in den kleinen.

Nun muss man nicht gleich dem örtlichen SlowFood-Convivium beitreten (kann man natürlich). Man sollte einfach nur mal drauf achten, was einem als Essen angeboten wird, und das eine oder andere hinterfragen. Keine ungewöhnlichen oder schwierigen Fragen. Eher von der Art: müssen Äpfel eine Schiffsreise aus Neuseeland hinter sich haben, gehören in einen Eistee wirklich vierzig Würfel Zucker rein, muss Alkohol nach Gummibärchen schmecken, und sind frittierte Küchanabfälle wirklich so vitaminreich wie es auf der tiefgekühlten Verpackung steht? Diese Art von Fragen. Leider gilt: Sobald Essen qualitativ akzeptabel wird, wird es uns oftmals als eine Art Luxusgut untergejubelt und mit Mondpreisen belegt. Meine Güte, ich will keine Filetspitze von einem verzogenen Kobe-Rind mit abgeschlossener Berufsausbildung, ich will eine Wurst!

Und ich glaube, es gibt so ein Mittelding. Leider nicht von der Wurst, die hat ja bekanntlich nur Enden.

P.S.: Ich habe nichts gegen Thüringen, Westfalen, Nord- und Ostdeutschland, und schon gar nicht gegen die Schweiz. Ich habe ja nicht einmal etwas gegen Pinneberg! Aber im Ernst: hättet ihr bis hierhin gelesen, wenn nicht ein paar regionale Sticheleien drin gewesen wären?   :-)

2 Gedanken zu „Nach Sankt Gallen, der Semmel wegen, oder: Hoppla, was kostet die Wurst?“

  1. Kenn ich doch — ist schon mal ein richtiger Schritt. (Sooo dolle war die Kalbswurst da aber auch nicht. Aber ich probier die anderen auch mal durch.)

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