Archiv der Kategorie: Lästerliches

Einzelhandel: stationär oder schon ambulant?

Einkaufen gehen wird täglich schwerer. Ich weiß nicht mehr genau, wann das anfing. Vielleicht als Tchibo begann, in seinen Läden alles außer Kaffee zu verkaufen. Oder als Aldi Ende der Neunziger plötzlich Computerfachmarkt wurde. Schon damals beschlich uns doch das Gefühl, dass Laden und Ware eigentlich nicht zusammengehören!

Und wie sieht es heute aus? Zum Paketabholen gehe ich in den Weinladen, denn dort bringt der Postbote es ungefragt hin, wenn ich nicht zuhause bin. Will ich hingegen nur eines abgeben, so kann ich das auch beim Bäcker tun. Früher war dafür die Post zuständig, aber die möchte heute in erster Linie Versicherungen und USB-Sticks verkaufen. Bei uns im Stadtteil verkauft sie ironischerweise auch Brot. Glühbirnen (100 Watt, für alles darunter kann man auch biolumineszentes Plankton verwenden) bekomme ich im Werkzeugfachhandel. Eine dafür geeignete Lampe (mit Keramikfassung) im Zooladen (für die Eidechsen, wissenschon). Bier gibt es an der Tankstelle. Fällt mir das Bierglas aus der Hand, gehe ich damit — richtig! — zum örtlichen Headshop, denn dort gibt es den anscheinend letzten verbleibenden Glasbläser Hamburgs.

Und obwohl der ganz viele Cannabisblätter an seinem Schild dran hat, gibt’s da nix zum Kiffen. Dafür müsste man zum Beispiel zum Busbahnhof, der so heißt, weil da früher mal die Bahn Busse fahren ließ. Zwischendurch machte das auch mal die Post. Also, Busfahren, nicht Cannabis verkaufen. Habe grad gelesen, demnächst macht das die Apotheke. Also, Cannabis verkaufen, nicht Bus fahren.

Obwohl, wer weiß.

He Who Shall Not Be Named

Schulfest beim Sohn. Eine der Attraktionen: ein offensichtlich selbstgebautes Gerät, bei dem man mit Tennisbällen auf eine Zielscheibe wirft, und das einem bei einem Treffer in hohem Bogen etwas entgegenschleudert…

Als ich sehe, was da in hohem Bogen aus der Maschine geflogen kommt, entfährt es mir begeistert: „Geil, ein Negerkusskatapult!“ Die Menge um mich herum verstummt, immer mehr Augenpaare wenden sich mir zu. Erschrocken, geringschätzend, tadelnd. In einem Steve-Martin-Film wäre jetzt noch die Musik ausgegangen und ich fände mich in einem Scheinwerferkegel wieder. „Das sagt man nicht mehr!“, zischt eine Dame neben mir. Ich überlege kurz, ob sie mein „Geil!“ zu eighties fand, aber, na ja, „Lässig!“ sagt man ja auch nicht mehr, und der Ausruf „Porno!“ war nur kurz in dem Spätneunzigern mal „in“, und wäre außerdem meinem Alter und dem Schauplatz – einem Schulhof – nicht angemessen gewesen. Aber natürlich ist mir ja auch schon längst klar, mit welchem Teil meines Wortschatzes ich soeben aufgelaufen bin. Es war der Neger.

Ich empfand das Wort „Neger“ nie als beleidigend oder sonstwie negativ belegt, habe es allerdings auch so gut wie nie außerhalb der Kombination mit „Kuss“ verwendet. Wofür auch, in meinem Wohnort gab es niemanden, den als solchen zu bezeichnen auch nur Sinn ergeben hätte. Aber gut, wenn ich etwas tun kann, um dem Rassismus Einhalt zu gebieten, dann bin ich dabei. Lasse ich es also künftig bleiben, das Wort „Negerkuss“ zu verwenden. Ich hänge nicht daran. Ganz früher hieß das Ding wohl auch mal „Mohrenkopf“, und wir fanden als Kinder den Begriff so uncool, dass wir betreten mit den Augen gerollt haben, wenn Opa uns in der Bäckerei einen bestellt hat.

Und, ja, ich habe es mitbekommen, dass die Negerküsse irgendwann umbenannt worden sind, ich weiß nur nicht mehr, in was. Ich habe seit ca. 25 Jahren keinen mehr gegessen. Schmeckt ja auch scheiße.

Also, wie heißen diese Zuckerschaumklopse denn heutzutage? Neben mir ein begeisterter Konsument im Kindesalter, der müsste es wissen. Schließlich badet er gerade sein Gesicht darin. „Wie heißt denn das was Du da isst?“ frage ich ihn. „Keime Ahmump“ sickert es dumpf aus seinem ausgeschäumten Mundraum. Nachdem er nur eine Sekunde später den Mund wieder frei hat, fügt er hinzu „Schoko…dinger, oder so.“ und leckt sich die Kakaoglasur vom Daumen. Der Rest des Schokodingerbezugs landet in kunstvollen braunen Streifen auf seinem Manuel-Neuer-Trikot, bereits das mit den vier Sternen.

Na gut, dann wird die Anstandsdame von eben es bestimmt wissen. „Sagen Sie mal. Wie sagt man denn heute dazu?“ erkundige ich mich bei ihr. „Na, Schokoküsse.“ entgegnet sie wissend. „Mama! Warum denn ‚Küsse‘?“ fragt von rechts unten ein ebenfalls einer Zuckerschaumparty entsprungenes halbwüchsiges Wesen. Offenbar ihr Sohn. „Mamaaaaa!“ wiederholt er, noch bevor Mama eine Chance gehabt hätte, zu atmen. „Warum sagt man ‚Küsse‘ dazu?“

Da haben wir’s. Das Kind ist also ebenfalls von der Namensgebung irritiert, aber nicht von dem Part mit dem Neger, sondern wegen des Kusses. Mama ist ratlos, aber ich lasse sie mit Sohn und Argumentationszwang alleine, schließlich hat sie angefangen. Hätte sie – wie ich vier Stunden später – Wikipedia zu Rate gezogen, hätte sie ihrem Sohn erklären können, dass der „Kuss“ eine Übersetzung der französischen Bezeichnung „baiser“ für den süßlichen Bauschaum ist, der dem Gebäck innewohnt und, ach, lesen Sie doch einfach selber.

„Bei uns hießen die immer Dickmann’s.“ erinnert sich ein Herr neben mir. „Sind se aber nich. Sind die vom Aldi.“, weiß ein weiterer Herr. Und ein dritter vermutet, „Ich glaube, die haben gar keinen Namen mehr.“

Tatsächlich? Ein Gegenstand, der aus sprachhygienischen Gründen ersatzlos seines Namen beraubt wurde?

„Hm…“ Der zweite Herr begutachtet sorgfältig die Form des Dings, das seine Tochter soeben auffing und ihm triumphierend vor die Nase hält. „Vielleicht ‚Afro-Meiler‘?“ Herr Eins atmet sichtbar Kaffee aus seiner Nase aus.

Sind eigentlich im Zuge des Namensverlustes die Dickmann’s-Umsätze massiv eingebrochen? Wie vermarktet man eigentlich ein Produkt, dessen Name tabu ist? Und unter welchem Namen bestellt der Supermarkt sie beim Großhandel? „Zweihundert Packungen von, Sie wissen schon, knick-knack“ klingt wenig business-like, und könnte obendrein zu ungewollten Lieferungen von, sagen wir, Kondomen oder Bild-Zeitungen führen.

Auf dem Heimweg begegne ich noch einmal der Anstandsdame mit ihrem ausgeschäumten Sohn. „Mama, mir ist schlecht!“, jammert der.

Der jüdische Komiker Oliver Polak sagte jüngst in einem Interview mit der Zeitschrift „brand eins“: „Political Correctness bedeutet, sich mit einem Missstand nicht auseinanderzusetzen. Die Forderung nach Verboten ändert nichts am eigentlichen Missstand.“ Der Missstand bei der Konditoreiware-die-nicht-genannt-werden-darf ist meineserachtens nicht ihr Name, sondern ihre bloße Existenz.

Obwohl, sieht schon geil aus, wenn so’n „Schokokuss“ aus dem Katapult mit Schmackes auf den Boden klatscht. Porno.

Weckt mich wenn Septemberende ist

Weil’s ein Publikumsrenner des aktuellen Wahlkabaretts „Im Reichstag brennt noch Licht“ am Theater Wedel ist: hier ein Mitschnitt meiner Musiknummer „Weckt mich wenn Septemberende ist“, in der Ben Bewersdorff — wie das Abendblatt schreibt — einen „hinreißenden, singenden Einfaltspinsel mit Heldenstatus“ gibt.

Schön, dass es Zivilcourage gibt.

Die Musik liefert das wunderbare Außerparlamentarische Orchester, das für diese Nummer extra seine Instrumente durchgetauscht hat. Besondere Erwähnung sollte hier unser Trompeter Martin am extra für ihn reduzierten Glockenspiel finden.

Nach Sankt Gallen, der Semmel wegen, oder: Hoppla, was kostet die Wurst?

Nun, da die Tage kälter werden, gelüstet es einem nach dem vollendetem Besuch des, je nach Geschlecht oder Vorlieben, Bau- oder Flohmarkts nicht mehr nach kühlendem Eis oder Bier, sondern nach etwas Warmen, Ungesunden an der Wurstbude. Und hier ist es, wo sich jedes Jahr aufs neue ein Land seinen kulturellen Spiegel vorhalten lassen muss. Hier stellt sich die Frage: was für Dinge essen wir, und was sind uns diese wert.

Ich durfte viele Jahre lang, vor allem zur kalten Jahreszeit, im schönen St. Gallen in der Ostschweiz zu Gast sein. Bekannt vor allem durch die sehr dekorative weltkulturvererbte Stiftsbibliothek, in der man zugegebenermaßen hervorragend auf Filzpantoffeln über den Intarsienfußboden schliddern kann, ist die eigentliche Attraktion dieser Stadt jedoch die Bratwurst. Sie allein ist schon die Anreise wert. Sie muss nicht unbedingt von den lokalen Metzgergrößen Schmid oder Gemperli kommen; auch das Modell, das vor dem örtlichen Coop (ohne ‚Okina gesprochen) vor sich hinbrät, ist schon sensationell. Die Wurst kommt vom einheimischen Nutztier, was mit einer an ein Datenschutzvergehen grenzenden Herkunftsangabe belegt wird. Das Grillgut findet auch in den anderen Regionen der Schweiz großen Zuspruch (was in diesem von einer Art Raubtierföderalismus geprägten Land schon was heißt), und so bekommt man sie auch, wenn man z.B. in Zürich aus der Bahn steigt und sich an der erstbesten Wurstbude eine Wurst kauft. Eine herrlich duftende, gut gewürzte, frische, anständig große Bratwurst mit einem sagenhaften Bauernbrötchen („Bürli“) dazu. Die hat dann auch ihren Preis: mit um und bei sechs „Stutz“ (Schweizer Franken), mithin ca. 4 Euro, ist man dabei und immerhin danach satt und glücklich.

Nun begeben wir uns über die Grenze, am besten nach Norddeutschland, da verstehen sie laut Guide Michelin am wenigsten vom Essen, und vom Fleisch schon gar nichts (die Ganzjahres-Aggro-Griller aus Westfalen vielleicht mal ausgenommen). Was bekommt man also an der deutschen Wurstbude? Meist eine zeigefingerdicke, ihrer Discounter-Vakuumverpackung entrissene, stundenlang bei Zimmertemperatur im lauwarmen Fett gedörrte Wurst, die mal Thüringer hieß, aber das darf man ja nicht mehr sagen, seit ein paar zwangsversetzte Marketingstrategen mit geographischem Minderwertigkeitskomplex die Ostzone mit der Champagne verwechselt haben, und sich den Begriff irgendwie schützen ließen. Nicht mal die zwischenzeitlich eingeführte klobige Bezeichnung „thüringische Art“ fand das Nachsehen der Strukturneider. Nennen wir sie also stattdessen „Bratwurst sowjetisch besetzter Art“, oder einfach „Zonenwurst“.

Also, wir erhalten — wohlgemerkt mit dem gleichen Wortlaut „Eine Wurst, bitte“ wie in der Schweiz bestellt — eine Zonenwurst. Das allein ist schon nicht preisverdächtig (und ich komme aus der Heimatstadt des Wurstherstellers hareico, bin also dem Brät gegenüber durchaus positiv geprägt). Aber der Hammer ist die „Beilage“: eine halbe, diagonal zerteilte ungetoastete Scheibe Toast!

Himmel! Ein 500g-Toastbrot kostet weniger als 60 Cent, hat 25 Scheiben, und davon eine Halbe (sic!), das macht — an dieser Stelle hole ich einen Taschenrechner mit Gleitkommakompetenz hervor — etwas über einen Cent pro Portion! Im Wurstbundle sind es dann ein Euro neunzig (offizielles Baumarktparkplatzpreisniveau).

Zwei Würste, zwei Welten. Was haben die Eidgenossen, was wir nicht haben? Nun gut, Geld. Aber das kann nicht der einzige Grund sein, weshalb eine Bratwurst bei uns Junk ist, und dort eine schlipsträgertaugliche Mahlzeit. Ich vertrete die wenig exotische oder originelle Meinung, dass die — halb kulturell bedingte, halb werbebeschworene — Billig-Mentalität in Deutschland uns in vielen Dingen schadet, auch in den kleinen.

Nun muss man nicht gleich dem örtlichen SlowFood-Convivium beitreten (kann man natürlich). Man sollte einfach nur mal drauf achten, was einem als Essen angeboten wird, und das eine oder andere hinterfragen. Keine ungewöhnlichen oder schwierigen Fragen. Eher von der Art: müssen Äpfel eine Schiffsreise aus Neuseeland hinter sich haben, gehören in einen Eistee wirklich vierzig Würfel Zucker rein, muss Alkohol nach Gummibärchen schmecken, und sind frittierte Küchanabfälle wirklich so vitaminreich wie es auf der tiefgekühlten Verpackung steht? Diese Art von Fragen. Leider gilt: Sobald Essen qualitativ akzeptabel wird, wird es uns oftmals als eine Art Luxusgut untergejubelt und mit Mondpreisen belegt. Meine Güte, ich will keine Filetspitze von einem verzogenen Kobe-Rind mit abgeschlossener Berufsausbildung, ich will eine Wurst!

Und ich glaube, es gibt so ein Mittelding. Leider nicht von der Wurst, die hat ja bekanntlich nur Enden.

P.S.: Ich habe nichts gegen Thüringen, Westfalen, Nord- und Ostdeutschland, und schon gar nicht gegen die Schweiz. Ich habe ja nicht einmal etwas gegen Pinneberg! Aber im Ernst: hättet ihr bis hierhin gelesen, wenn nicht ein paar regionale Sticheleien drin gewesen wären?   :-)

Guten Tag, haben sie meine Verkäuferkarte?

Ich habe mich entschieden: Ich werde es nun wie alle großen Einzelhandelsunternehmen machen. Ich führe analog zur Kundenkarte eine "Verkäuferkarte" ein. Da werden sich die Läden freuen, denn das zahlt sich für sie aus: wenn ich an der Kasse im Super-, Bau- oder Drogeriemarkt an der Schlange anstehe, um mir dort meinen Joghurt, meine Packung Dübel oder meinen Badeschwamm zu kaufen, und mir der Kassierer seine Ravn-Verkäuferkarte vorzeigen kann, zahle ich ihm 10% mehr! Wirklich! Das ist geschenktes Geld, das darf sich doch ein wirtschaftlich denkendes Unternehmen nicht entgehen lassen.

Die Teilnahme ist ganz einfach. Der Kassierer muss nur auf einem Formular seine kompletten Adressdaten, Telefonnummern, Geburtsdatum und ein paar weitere marketingrelevante Daten (vielleicht Familienstand, Einkommen und (bei Damen) Körbchengröße) eintragen. Das kann er einfach machen, während ich an der Kasse warte. Die nachfolgenden Kunden werden Verständnis haben, dass für Verkäuferbindungsmaßnahmen Zeit sein muss.

Die Daten werden von mir selbstverständlich streng vertraulich behandelt, vorsichtshalber lasse ich aber den kleingedruckten Passus stehen, der es in begründeten Ausnahmefällen erlaubt, die Personendaten fast anonymisiert an gute Kumpels weiterzugeben, z.B. im Rahmen eines facebook-Posts, oder sie als CD zu verkaufen, oder einfach so.

Ich werde also bei meinen nächsten Einkäufen jedesmal den Verkäufer zum kostenlosen (!) Erwerb einer Verkäufer-Vorteilskarte anhalten. Wenn der Verkäufer Nein sagt, werde ich ihn beim nächsten Betreten des Ladens trotzdem wieder fragen, schließlich kann ja keiner erwarten, dass ich mir merke, wen ich schon alles gefragt habe! Wenn er sich beschwert, sage ich, die Anweisung zur Frage nach der Karte kommt von meiner Frau, und die kontrolliert das durch verdeckte Prüfer unter den Kassierern, und wenn da Nachlässigkeiten meinerseits zutage kommen, schmeißt sie mich raus.

Meine Vermutung ist ja, dass sich trotz dieses lukrativen Angebots die wenigsten Verkäufer auf den Erwerb der Verkäuferkarte einlassen werden. Die Antworten werden wahrscheinlich (in Reihenfolge der Häufigkeit der Nennungen) lauten:

  1. "Wie bitte? Ham Sie’n Knall?"
  2. "Das geht Sie gar nichts an. Lassen Sie mich mit dem Quatsch in Ruhe."
  3. "Wenn wir das für jeden Kunden machen würden, hätten wir ganz schön viele Karten und würden durcheinanderkommen."
  4. "Ich habe Ihnen das letzte Mal schon gesagt, dass wir das nicht machen."
  5. "Für so was habe ich jetzt keine Zeit."
  6. "5% mehr Geld klingt gut, da mach ich mit." (Aber in die Daten schreibe ich einfach irgendeinen Scheiß rein.)

Zufällig deckt sich diese Aufzählung ziemlich genau mit der Meinung der Kunden zum Thema "Kundenkarten". Da der Einzelhandel aber an diesem Bindungswerkzeug begeistert festhält, kann es so schlecht nicht sein, und ich sehe das einfach etwas unentspannt. Schaun wir mal.

Ich rechne damit, bei einer gewissen Penetranz meinerseits in den Läden Hausverbot zu bekommen. Liebe Läden: übertragt bitte einmal das Bild von der Verkäuferkarte auf Eure Kundenkarte, und denkt nach, was dort die Analogie zum Hausverbot ist.

Danke.

Euer ehemalige Kunde

Der Lärm gesprengter Ketten

Wer es noch nicht mitbekommen hat: dies Jahr ist wieder Fußballweltmeisterschaft. Das heißt: Futter für Anhänger Orwell’scher Überwachungstechnologien, überteuerte und undurchschaubare Verkäufe von Tickets und Übertragungsrechten, FIFA-Skandale und auch ein bisschen Fußball.

Beschäftigen wir uns jedoch einmal mit den Nationalhymnen. Ich habe im Juni wiederholt die Gelegenheit, in Zürich einen Klavierabend zu bestreiten, bei welchem ich das auf Leinwand übertragene Spiel Griechenland ./. Argentinien als Stummfilm am Klavier begleiten werde. Da komme ich auch nicht drumrum, mich mit den Hymnen der Länder zu befassen.

Zur letzten WM war das Spiel Japan ./. Brasilien Thema des Abends. Was für ein Gegensatz: die kurze, gemächliche, Unisono-Melodie der Japaner gegen das komplexe rhythmische Feuerwerk der Brasilianer! Man stelle sich vor, Brasilien würde das fehlerfreie Aufsingen seiner Nationalhymne im Ausländerintegrationstest vorsehen. Das Land wäre nach kurzer Zeit wie leergefegt. Die brasilianische Hymne ist unsinnig schnell, schwer zu spielen, schwer zu singen, temperamentvoll und schmissig.

Diesmal also Griechenland und Argentinien. Auch hier starke regionale Unterschiede, bei welcher sich mir die Frage aufdrängt: Welche Aufgaben soll eine Nationalhymne eigentlich erfüllen? Ohne eine ausreichende statistische Masse betrachtet zu haben, wage ich die Vermutung, dass auf der Nordhalbkugel die Hymnen bewusst so komponiert werden, dass sie jeder Ackergaul mitsingen kann, während auf der Südhalbkugel die eigene Landeshymne von deren Bevölkerung im Grunde nicht zu bewältigen ist.

Und hier bestätigt sich meine Vermutung erneut: Die Hymne Griechenlands ist einfach, solide, spaßbefreit, selbstsicher und ein bisschen doof, genau wie die deutsche. Selbst die Spieler der Nationalmannschaft können sie mitsingen.

Und dann war da noch Argentinien. Ein schönes, bewegtes Land mit einer schwierigen Vergangenheit und steten sozialen Problemen. Idealer Nährboden für wunderschöne depressive Tangos, und eine etwas komische Nationalhymne. Man meint, sie sei extra dazu geschaffen, die eigenen Mitbürger zu verunsichern und sie auf einer gesunden Distanz zu ihrem Staat zu halten. Die argentinische Nationalhymne ist unendlich lang und kompliziert. Sie ist musikalisch trist und der Text voll mit vagen Durchhalteparolen. Sie hat Unmengen unmotivierter Temposchwankungen und Fermaten, und sie hat ein elendlich langes Instrumentalvorspiel!

Interessant zu sehen, wie sich ein solches Stück im musikalisch wackligen Fundament einer Fußballmannschaft so schlägt. Da das Stück schon von der schieren Länge her ungeeignet für einen Einsatz vor dem Anpfiff ist, wird es eigentlich immer irgendwie gekürzt, aber immer anders. Schaut man sich die Aufzeichnungen früherer Spiele an, muss man unweigerlich schmunzeln, da die aufgereihten Spieler während des langen Vorspiels unsichere Blicke austauschen, wann’s denn nun losgeht. Ich vermute, der Mannschaftskapitän entscheidet dies. Das Wort "Spielführer" erhält hier eine neue Bedeutung, und die Person eine neue Verantwortung. Hin und wieder wird auch nur das Instrumentalvorspiel gebracht, vermutlich aus Rücksicht auf die Konzentration der Fußballer.

Für die Stummfilmbegleitung ist diese Hymne extrem undankbar: da ich ja nichts höre, sind meine einzige Orientierung die Feldspieler, und die verstehen das Stück selbst nicht.

Ich muss zugeben, mein Interesse an diesem Land ist gestiegen. Und da ich den Tango eh im letzten Jahr vernachlässigt habe: mal sehen, was der Urlaubskalender 2011 so hergibt. Aber erstmal: schöne WM! Frohes Buffen! Pauli!

Ein Weihnachtsgruß zum geschriebenen Wort

Lieber Leser.

Vielleicht ist es übertrieben, wenn ich bei der Anrede in der Einzahl bleibe. Aber so viele Leute lesen meinen Blog auch nicht, dass ich ohne hochzustapeln mit "Werte Massen" beginnen könnte. Deutlicher gesagt: Das, was ich hier hin und wieder schreibe, liest praktisch kein Schwein. Ich bin mir dessen bewusst, bin mit dieser Tatsache im Frieden, denn ich bin in guter Gesellschaft: Viele Leute auf der Welt schreiben sich die Seele aus dem Leib, ohne dass es je gelesen wird.

Klassifizieren wir diese Schriftstücke – nennen wir sie hier einmal Write-Only-Media (WOM) – einmal grob in zwei Gruppen:

a) solche, die mit wenig Aufwand und in geringer Stückzahl produziert werden und nur marginale Verbreitung erfahren, z.B.:

  • dieser Blog,
  • der Liebesbrief von dem fahlgesichtigen Streber aus der 8b,
  • Tagebücher,
  • Beschwerdebriefe an die Telekom, usw.

b) und solche, die außerordentlich aufwändig, in schierer Unzahl und mit teils weiltweiter Verbreitung gedruckt, publiziert und verteilt werden. Und trotzdem keinen einzigen Leser finden.

Was für welche sind das? Nun, es gibt sie massenhaft und überall! Ein weihnachtliches Beispiel:

Mein kleiner Sohn bekam zu Weihnachten eine Werkbank geschenkt, mit kindgerechtem Plastikwerkzeug und einer kleinen batteriebetriebenen Bohrmaschine. Das Bundle kam mit nicht weniger als acht unterschiedlichen Begleitzetteln, auf denen auf fast allen stand "Wichtige Informationen! Unbedingt sorgfältig durchlesen und aufbewahren!". Nun lesen wir grundsätzlich keine Begleitzettel. Mein Sohn nicht, weil er nicht lesen kann, und ich nicht, weil ich als Mann selbstverständlich kompetent genug bin, jeden mir vorgelegten Gegenstand aus dem Stand heraus montieren und bedienen zu können. Erst recht ein Kinderspielzeug!

Auffällig an der Werkbank ist jedoch ein (ebenfalls aus kindgerechtem weichmacherfreien Kunststoff gefertigter) Schraubstock, der schlicht ohne erkennbare Funktion ist. Nun habe ich das nicht wirklich erwartet: die Kneifzange und der Hammer funktionieren ja schließlich – aus gutem Grunde – auch nicht. Dennoch entschloss ich mich, doch einmal die Beilegezettel zu überfliegen, ob mir vielleicht doch bei der Montage ein Fehler unterlaufen sei. Und so sah ich also das ganze Elend:

  1. ein Blatt mit vagen Sicherheitsbestimmungen und Warnhinweisen ("Achtung! Nicht über die vom Hersteller angegebene Belastungsgrenze hinaus beanspruchen!"),
  2. eines mit nicht minder vagen Entsorgungsrichtlinien ("ggf. im Lieferumfang vorhandene elektronische Bestandteile sind fachgerecht zu entsorgen"),
  3. ein Garantiezertifikat, das jedoch nur dann gültig ist, wenn das Spielzeug "vom Fachhändler montiert wird" (hallo, es ist eine Kinderwerkbank mit daumengroßen Plastikschrauben!) und ferner mit Unterschrift, Kaufdatum und Stempel von einer nicht spezifizierten Stelle ausgestellt werden muss (das Garantiezertifikat ist übrigens in Plastik eingeschweißt tief unten im versiegelten Pappkarton untergebracht. Viel Spaß im Spielzeugladen.),
  4. ein Blatt mit Richtlinien für korrektes Einsetzen und Entsorgung der Batterien (welches jedoch sich darüber ausschweigt, wo sich denn eigentlich das Batteriefach verbirgt),
  5. eine Liste von kompetenten Fachhändlern im europäischen Ausland (praktisch, wenn man die einen halben Kubikmeter messende Werkbank gerade mit dem Flieger nach Madrid transportiert hat),
  6. ein Blatt, das die Konformität irgendeiner mir unbekannten und nicht näher spezifizierten TÜV- oder CE-Richtlinie beurkundet,
  7. ein Blatt mit Modellnummern (ohne Abbildungen) und Bezugsadressen für ein offenbar von der gleichen Firma angebotenes Zubehör, dessen Bezug zum erworbenen Produkt mir nicht klar ist,
  8. und – endlich – eine Montageanleitung. Kurz gefasst, zwölfsprachig, der deutsche Teil immerhin weitgehend rechtschreibfehlerfrei, und ganz offensichtlich einer früheren Produktserie mit vollständig anderen Teilen zugehörig, somit praktisch nutzlos. Immerhin: der Skizze nach soll die nach einem Schraubstock aussehende Vorrichtung gar nicht wirklich funktionieren, wahrscheinlich aus Sicherheitsgründen.

Acht Dokumente, welche allesamt mehr oder weniger mühevoll, jedoch zeitaufwendig konzipiert, formuliert, geschrieben, übersetzt, qualitätsgesichert, gedruckt, eingetütet und versandt worden sind. Um beim Empfänger, noch nach Druckerschwärze duftend, sofort im Altpapier zu landen. Das sind Write-Only-Medien der Klasse b).

Dieser zweiten, bedauernswerten Gruppe von Autoren gilt mein weihnachtliches Mitgefühl. Warum? Nun, den Kollegen der WOM Klasse a) macht ihr Mühsal vermutlich zumindest Freude. Oder sie schreiben sich den Frust von der Seele. Oder sie pflegen zumindest ihre literarischen Grundkenntnisse.

Aber Euch, Ihr Autoren der WOM Klasse b)? Macht es Euch Spaß, EU-regelkonforme Sicherheitsrichtlinien und Warnhinweise zu schreiben? Fühlt Ihr Euch befreit, wenn das von Euch mühsam erstelle Endbenutzer-Lizenzabkommen (EULA) von 20 Bildschirmseiten Länge endlich

IN UNLESERLICHEM FETTEN DAUERGROSSDRUCK MIT MIKROSKOPISCH KLEINEM SCROLLBALKEN IN TIMES NEW ROMAN SECHS PIXEL IN DUNKELGRAU AUF SCHWARZ IN EINEM ZWEI MAL SECHS ZENTIMETER GROSSEM TEXTFELD DAS SICH SO FUMMELIG BEDIENEN LÄSST UND KEIN ÜBERFLIEGEN SEINES INHALTES ZULÄSST, SO DASS MAN GAR NICHT MERKT, DASS DER REST AUS BLINDTEXT ZWEI BOXKÄMPFER JAGEN EVA QUER DURCH SYLT THE QUICK BROWN FOX JUMPS OVER THE LAZY DOG LOREM IPSUM DOLOR SIT AMET UT PURUS EST LEO SED CONDIMENTUM SEMPER DONEC VELIT NEQUE MAECENAS ULLAMCORPER

auf der Website prangt? Bekommt ihr begeisterte Leserbriefe für den haftungsbeschränkenden E-Mail-Footer und den kugelsicheren Website-Disclaimer? Oder wenigstens viel Geld?

All ihr Autoren von Allgemeinen Geschäftsbedingungen, Arbeitsanweisungen, Image-Broschüren und Beipackzetteln, von Versicherungsbedingungen, Reklame-Pop-Ups und Werbebeilagen, von README- und license.txt-Dateien. Vielleicht ergibt Eure Arbeit einen Sinn. Ich möchte aber nicht mit Euch tauschen. Meine Wörter werden ebensowenig gelesen wie Eure, aber zumindest schreibe ich sie freiwillig, gehe damit fast niemandem absichtlich auf den Geist, und die Herstellung und Verbreitung geschieht vergleichsweise CO2-neutral.

Sollte tatsächlich irgendjemand bis hierhin gelesen haben, bitte ich ihn, zum Beweis als Kommentar das Wort "Gummistiefel" zu hinterlassen.

Frohen Jahresausklang,

Euer Rude

Malencoded

Es gibt neue Shirts, die Serie „Malencoded“!

Immer wieder sorgen sie für Lacher – Pfusch in der Plakatwerbung, auf Produktpackungen, in Bedienungsanleitungen oder an der Schaufensterbeschriftung: Rechtschreibfehler, Grammatikfehler, Übersetzungsfehler, Formatierungsfehler, „Photoshop-Disaster“. Alles Fehler, die sich leicht hätten vermeiden lassen, wenn „am Ende einfach noch mal jemand draufgeguckt hätte“, bevor es in den Druck ging. War hier die Gleichgültigkeit eines unterbezahlten Druckereimitarbeiters am Werk? War die Einhaltung des Veröffentlichungstermins wichtiger als eine Qualitätssicherung? Oder hat es wirklich keiner gemerkt?

Der Reiz eines Pfusches ist natürlich um so höher, je aufwendiger und teurer das Zielprodukt ist. Ein Rechtschreibfehler auf dem Flyer eines Gebrauchtwagenhändlers ist unangenehm, gehört aber fast schon zum guten Ton der Branche. Aber auf einem turmhohen Großwerbeplakat für ein Markenunternehmen? Das dürfte eigentlich nicht passieren, denkt man. Passiert aber.

Besonders reizvoll sind darüberhinaus solche Fehler, deren Zustandekommen man sich nur mit spezialisiertem Knowhow erklären kann, und die ein gravierendes internes Problem beim Produzenten offenbaren. Für den IT-Kundigen ist dies z.B. der Fall, wenn anstatt der Zutatenliste für Schokorosinen auf der Verpackung ein SQL-Statement der Art „SELECT * FROM [Equipment Table] WHERE [Equipment ID] = 4“ prangt. Höchstwahrscheinlich der falsche Variablenname in einem Programmcode.

Ein weiteres reizvolles Fehlerpotential bildet die Zeichencodierung in Texten. Zu finden nicht nur gelegentlich auf namhaften Webseiten, sondern z.B. auf Amazon-Rechnungen und in so manchem Print-Produkt. Charakteristisch ist hier die Verwechslung von ISO- und UTF-Codierungen. Sie zeigt sich bei Verwendung von länderspezifischen Sonderzeichen, z.B. deutschen Umlauten.

Solche Fehler passieren andauernd, müssen aber am Ende beseitigt sein, spätestens in der Druckerei. Das Zauberwort heißt hier: Sorgfalt. Jeder Mitarbeiter in der Wertschöpfungskette hat die Verantwortung zum Mitdenken.

„Malencoded“ setzt diesen Gedanken fort und lässt den UTF-8-Fehler in das Heiligste eindringen: die Marke selbst. Würde es der Pianofirma „Bösendorfer“ passieren, dass ihr Markenname, in ausgefrästen Bronzelettern auf das Klavier geklebt, mit einem UTF-8-Fehler auf Hunderttausend-Euro-Flügeln ausgeliefert wird? „Bösendorfer“? Hoffentlich nicht.

„Malencoded“ stellt mangelnde Sorgfalt in Gestalt von Codierungsfehlern auf (einigermaßen) aufwendig zu produzierenden Medien dar, z.B. einem T-Shirt. Hier bieten sich Bandnamen mit „Heavy Metal Umlauts“ an. Hmmm… Mötley Crüe wär auch gut… hört aber glaub ich nun wirklich keiner.

Das Schöne: es versteht natürlich nicht jeder. Von Nerds, für Nerds.

In diesem Sinne: Schöne Grüße!

Kompositionslehre



Ein namhafter Besprechungskeks­hersteller schmückt seit neuestem sein Oeuvre „Selection“ mit einem Hinweis auf eine „verbesserte Komposition“.

Ich bin mir nicht sicher, ob die Schöpfungshöhe einer Kekspackung diese Wortwahl wirklich rechtfertigt, stelle jedoch fest, dass Kompositions­verbesserung viel zu wenig betrieben wird. Mir fallen aus dem Stegreif eine ganze Reihe Kompositionen ein, die stark verbesserungsfähig wären.

Da gibt es klassische Komponisten, deren Werke, nun ja, „für ihre Zeit innovativ und überwältigend waren“ — mit anderen Worten, nicht zu gebrauchen. Hin und wieder nimmt sich in der Tat jemand einem solchen Werk an und pfriemelt solange dran rum, bis es einigermaßen klingt. Jedoch steht dann auf dem Notenheft meist etwas wie „153., vollkommen überarbeitete Auflage“. Viel werbewirksamer wäre doch da ein kleines Fähnchen „verbesserte Komposition“!

Ich denke, für Kompositionsverbesserer gibt es viel zu tun. Jeder, der einmal das Autoradio angeschaltet hat, kann dies bestätigen. Sofern er in dem knappen Zeitfenster zwischen Radiostationsjingle und Zuhörervotingwerbung ein versehentlich eingestreutes Stück Musik wahrnehmen konnte.

Bei der sehr sorgfältigen Analyse des Kekspackungsinhalts konnte ich übrigens keinen entscheidenden kompositorischen Eingriff in den Urtext der „Selection“ feststellen.

Jetzt ist mir schlecht.